
Wiederbelebung einer hohl gewordenen Welt
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Schein oft mehr gilt als Sein. Der Umgang mit
Worten, Verhaltensweisen und Handlungen lässt oft den Eigensinn und die Kreativität
der Protagonisten vermissen, ja das gesamte menschliche Miteinander verkommt
mitunter zur bloßen inhaltsleeren Hülle.
Bezogen auf den Umgang mit unserer Sprache könnte man manchmal den Eindruck
gewinnen, dass vieles einfach nachgeplappert wird, weil es so oft gehört oder gelesen
wurde. Manche Schlagworte tauchen plötzlich in der Öffentlichkeit auf und sind dann
omnipräsent. Wenn wir sie dann zum Beispiel in einem Gespräch mit anderen einfließen
lassen, erhoffen wir uns möglicherweise, als informiert und gebildet zu gelten. Aber
wissen wir wirklich immer, wovon wir da eigentlich sprechen? Was mit diesen neuen
Schlagworten oder gebildet klingenden Sprechblasen eigentlich gemeint ist und
welchen Inhalt sie haben?
Wenn wir keinen Begriff mit bestimmten Wörtern oder Redewendungen verbinden, also
ihren Sinngehalt nicht kennen, sollten wir lieber auf ihre Anwendung verzichten, denn
sonst ist unsere Rede nichts weiter als eine leere Phrase ohne Inhalt. Phrasendrescher
mögen ihre Zuhörer eine Zeitlang zu blenden verstehen, doch meist dauert es nicht
lange, bis wir ihnen auf die Schliche kommen und bemerken, dass sich hinter den
wohlklingenden Worten nichts Geistvolles verbirgt. Jeder Gedanke und jedes
gesprochene Wort erzeugen eine Form. Wenn diese Formen nicht von uns selbst mit
Inhalt gefüllt werden, wird dies von anderen, eher destruktiven Kräften erledigt, denn
keine Form in dieser Welt bleibt jemals leer. Deshalb sind Phrasen tatsächlich die
Vorstufe zur Lüge! Wenn wir unüberlegt Dinge äußern, die wir nicht selbst geprüft haben
oder die nicht aus unserer ureigenen Erfahrung stammen, laufen wir Gefahr, zur
Verbreitung von Unwahrheiten beizutragen, auch wenn wir das unter Umständen gar
nicht beabsichtigen.
Fruchtbar für das Gedeihen eines lebendigen Geisteslebens wäre dagegen die
Anwendung einer individuell gefärbten Sprache, die sich auch einmal einer
ungewöhnlichen Wortwahl bedient. Die deutsche Sprache bietet hierzu vielfältige
Möglichkeiten, denn der Fantasie bei der Wortbildung sind kaum Grenzen gesetzt. Doch
vor allem sollten wir natürlich auf den Inhalt unserer Worte achten und lieber einmal auf
einen Kommentar verzichten als inhaltsleere Phrasen zu dreschen. Es ist keine
Schande, wenn wir nicht immer und überall unseren Senf dazugeben!
Das Geistesleben bietet die Nahrung für die anderen beiden Bereiche unseres
gesellschaftlichen Organismus, das Rechtsleben und das Wirtschaftsleben. So ist es
nicht verwunderlich, dass die inhaltsleere Sprache die inhaltsleere Verhaltensweise im
Rechtsleben nach sich zieht. Wenn z. B. Verträge nicht wirklich aus einer lebendigen
Begegnung von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe heraus geschlossen werden,
enthalten sie oft nur überkommene und genormte Verhaltensmaßregeln. Alles, was
unter Etikette und normiertem Verhalten zu verstehen ist, nennen wir Konvention.
Menschen, deren Verhalten sehr stark durch Konventionen geprägt ist, wirken oft steif
und wenig authentisch. Bei ihnen meinen wir zunächst oft, wenig Raum für ein
lebendiges Miteinander zu finden, es sei denn, wir erkennen in unserem Gegenüber den
gleichwertigen Menschen, der wie wir einen schöpferischen Wesenskern hat, auch
wenn dieser hinter einer konventionellen Hülle verborgen sein mag. Wenn wir in dieser
Weise auf unsere Mitmenschen zugehen, eröffnen wir den Raum für ein fruchtbares
Miteinander auf Augenhöhe.
Im Wirtschaftsleben schließlich werden wir für andere Menschen tätig. Wenn wir
wissen, wem unsere Arbeit dient und wozu wir sie erledigen, gelingt es uns vielleicht, sie
mit Freude zu tun, selbst dann, wenn die damit verbundenen Tätigkeiten vielleicht nicht
immer angenehm sind. Doch vielfach haben wir uns so sehr davon entfremdet, dass uns
dieser Zusammenhang abhandengekommen ist. Dann gerät unsere Arbeit in Gefahr, zur
Routine zu verkommen, die lähmend wirken kann und heute nicht selten zur
Erschöpfung bis hin zum Burnout führt.
Eine Möglichkeit, solche Auswüchse zu verhindern, wäre es, die in einer Firma,
Institution oder Branche wirkenden Menschen in die gesamten dort anfallenden
Arbeitsprozesse einzubeziehen, damit sie auch um die Bedürfnisse der anderen
Beteiligten wissen. So können wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die uns allen
gerecht werden. Auch sollten wir nach Möglichkeiten suchen, die tägliche Arbeitszeit
auf vier Stunden zu beschränken, so dass wir noch genügend Zeit für einen z. B.
künstlerischen Ausgleich finden, der unsere seelisch-geistigen Bedürfnisse nährt.
Wenn es uns gelingt, unsere Sprache bewusst und verantwortungsvoll zu führen, in
unseren Mitmenschen das gleichwertige geistige Wesen zu erkennen und einen
erfüllenden Sinn in unserer Arbeit zu finden, können wir die Herrschaft der drei
Hohlheiten Phrase, Konvention und Routine überwinden. Dann erleben wir unseren
Alltag wieder lebendig und gewinnen Kraft und Zuversicht, die auf uns wartenden
Aufgaben mutvoll in Angriff zu nehmen und zu meistern.
Christoph Bolleßen hat das Thema auch in seinem Vortrag behandelt, den er am
31.5.2024 in Köln gehalten hat: https://www.youtube.com/watch?v=rC8ZCu0sshk
Transkript: https://www.anthro.world/Grundgedanken_zur_Sozialen_Dreigliederung_-_ein_Vortrag_von_Christoph_Bolle%C3%9Fen
Ursula Dziambor