Eichbaum Institut

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Florian und der Wolfsmann – eine Zufallsbegegnung

An einem kühlen Sommertag macht Florian sich auf den Weg in seinen Lieblingswald. Er freut sich
auf den Sandboden, den Kiefernduft und die Klänge der Vögel. Wie immer verfliegt die Zeit, und um
den kleinen Ausflug noch ein bisschen in die Länge zu ziehen, setzt er sich kurz vor seiner Rückfahrt in die Großstadt noch auf eine lauschige Bank. Er versinkt tief in seinen Gedanken, bis er von einem älteren Herrn angesprochen wird. Er hat eine große Hündin dabei.

„So alleine?“

„Ja“, lächelt Florian freundlich, „das ist für mich der Normalzustand.“

„Für mich auch!“

„Was? Das ist interessant! Sehr viele Menschen möchten lieber in Gesellschaft sein!“

Florian wittert einen Gleichgesinnten. Er macht fast alles in seinem Leben allein. Er wohnt allein und
trifft sich nur ab und zu mit anderen Menschen, z. B. zum Tischtennis, auf ein Bierchen oder auch zum Videochatten.

Der Herr erläutert ausführlich, wie allein er sei, wie sehr er das genieße, dass er in einem Blockhaus
mitten im Wald aufgewachsen sei und ein Grundstück weit weg von jeder Zivilisation besitze.

„Wow“, sagt Florian, „und Sie treffen sich da nicht mit Leuten?“

„Nein. Ich lebte dort mit meiner Wölfin.“

„Mit Ihrer Wölfin??“

„Ja, das ist verboten, aber über Holland und mit ein bisschen Nachhilfe hat das geklappt. Sie wurde
sechs Jahre alt. Ich habe noch einen Wolf bekommen, mit dem ich lebte, bis er nach 16 Jahren starb.“

„Der schamanisch angehauchte Lehrer einer Bekannten von mir besaß auch einen Wolf; er lag mit
ihm im selben Bett. Ist das gut für das Tier?“

„Das ist kein Problem, solange das Tier den Ort freiwillig aufsucht.“ Er seufzt. „Wölfe sind viel treuer
als Hunde.“

Florian blickt auf die Hündin herab, die sich an seine Beine kuschelt.

„Treuer als ein Hund? Hunde sind doch so treu! – Möchten Sie sich nicht setzen?“

„Nein, wenn ich erstmal sitze, ist das nicht so günstig für mich. Ja, Wölfe sind total auf einen
Menschen fixiert. Deswegen habe ich in meinem Alter auch keinen weiteren Wolf genommen,
sondern einen Hund. Wenn ich sterbe, könnte der Wolf sich an niemanden gewöhnen. Er wäre
verhaltensgestört.“

„Hm, dann haben Sie das aus Rücksicht auf den Wolf so entschieden.“

„Ja.“

Der Herr wischt auf seinem Handy herum. Er will Florian ein Foto von seinen Wölfen zeigen, doch
findet er die Fotos nicht.

Florian denkt, dass der Mann so allein gar nicht ist, wie er sagt, wenn er immer einen tierischen
Begleiter bei sich hat. Er selbst hat nie ein Tier besessen und sehnt sich schon lange nach einer
Herzenspartnerschaft mit seiner zukünftigen Liebsten. Monetäre Gründe hat er nicht dabei, sondern
es ist ihm ein seelisches Bedürfnis, eine echte Liebe zu leben, die frei lässt.

Der Herr steckt sein Handy weg. „Ich habe als Kind geträumt, dass ich einen Wolf habe!“

„Das ist sagenhaft! Und Sie haben sich den Traum zweimal in Ihrem Leben erfüllt!“

„Ja.“ Er schluckt. „Meine Frau und meine Kinder … Nachdem der zweite Wolf verstorben war, haben
Sie mir sie hier als acht-wöchigen Welpen geschenkt. Ich hatte den dritten Wolf schon bestellt. Die
Kleine lief auf mich zu und ich wusste, dass ich den Wolf wieder abbestellen muss. Das war bitter.“

„Ach, dann war das gar nicht Ihre Entscheidung, so wie Sie es vorhin darstellten. Es war die
Entscheidung Ihrer Familie. Das war Gruppendruck.“

„Ja.“

Und wieder wundert sich Florian. Was versteht der Herr unter Alleinsein? Er hat stets tierische
Begleiter, ist verheiratet, hat Kinder. „Das habe ich nicht“, denkt er, „ich bin schon 58 und kein Kind
ist da, geschweige denn Enkel.“

„Ich bin ja schon alt. Wenn ich auf Hilfe angewiesen sein werde, stelle ich meinen Herzschrittmacher
aus. Ich habe einen Magneten dafür.“

„Haben Sie keine Angst vor dem Sterben dabei? Oder wollen Sie sich vorher betäuben?“

„Das ist nur ein Stich.“

„Und weiß das Ihre Frau?“

Der Herr sucht nach Worten. „Meine Frau geht an zwei Krücken.“

Er wischt wieder auf seinem Handy. Es will einfach nicht gelingen. Endlich hat er ein Foto und zeigt es
Florian. Die Wölfin hat große Ohren und ein bräunliches Fell.

„Ein Wolf läuft nicht im Zickzack hinter einem Reh her, wie Hunde das tun, sondern grade“, schwärmt
er. „Ich habe ihm einmal gezeigt, er solle in die Ausbuchtungen der Wege gehen, falls Fahrräder von
vorn kommen, und seitdem machte er das immer von allein.“

Während sie sich weiter über Hunde und Wölfe unterhalten, kommen immer wieder Spaziergänger
vorbei. Er kennt die Leute jeweils. Mit einer Hundebesitzerin ist er jeden Tag neunzig Minuten
spazieren gegangen.

Florian fasst zusammen: „Das haben Sie sich schön eingerichtet. Sie führen eine Ehe, Sie haben
Kinder, Sie kennen viele Leute, Sie gehen gern mit Leuten zusammen spazieren, und Sie quatschen
auch gern ausführlich mit fremden Leuten.“

„Ja.“ Er schmunzelt.

„Und Sie sind auch gern allein, mit Hund.“

„Ja.“

Als sie sich verabschieden, ruft er seine Hündin etwas verliebt zu sich. Sie brechen auf und sie bellt
einmal laut auf vor Freude, jetzt mit Herrchen weiter spazieren zu gehen.

Florian macht sich nun auch auf den Weg zurück in die Stadt. Aber er lässt sich Zeit dabei, weil er
seine Gedanken noch sortieren will.

„Wie unterschiedlich Menschen den Begriff allein interpretieren“, sinniert er bei sich. „Für ihn sei das
der Normalzustand, hatte der Herr doch eingangs gesagt. Hatte er das auf die meisten seiner
Spaziergänge bezogen? Nicht auf das Leben generell, wie ich?“

Ein Salamander huscht vom Wegrand ins Gebüsch.

Florian spricht laut vor sich hin: „Er sucht die Einsamkeit und wird von der Familie zu Sachen
gedrängt, die er nicht will. Andererseits quatscht er und quatscht. Was will er? Welche Bedürfnisse
bringt er in seinem Leben unter? Oder hatte er in Wirklichkeit nie das Bedürfnis nach einer eigenen
Familie, ist da so reingerutscht und löffelt die Suppe jetzt aus?“

Florian bleibt stehen und betrachtet einen Kleiber, wie er an einem Eibenstamm zupft.

„Der Herr will doch die unbedingte dauerhafte und ehrliche Nähe eines Wesens. Sonst wäre er nicht
so vernarrt in die Treue eines Wolfes. Ich hingegen suche nicht die tierische Treue und die
Verantwortung für ein Tier. Ich will allein sein und in einer Partnerschaft leben. Ich kann allein sein.
Kann es der Mann auch? Nein, er hat immer ein Tier bei sich. Wir beide verstehen was ganz anderes
unter dem Alleinsein.“

Inzwischen hört er bereits die Autostraße.

„Wie toll, dass sein Kindheitstraum zweimal erfüllt wurde!“, denkt er. „Vielleicht wird es mein Traum
ja auch.“

Florian träumt von einer Gesellschaft, in der die Menschen aufeinander achten, statt die Ellebogen
auszufahren und sich gegenseitig zu betrügen. Er fragt sich, wie man in einer erneuerten Gesellschaft
den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden kann. Er fragt sich, wie wichtig es
ist, wirklich allein sein zu können. Er fragt sich, wer das eigentlich kann.

Nun steigt er auf sein Rad. Gegen den Straßenlärm an ruft er in den Wind: „Und wer ist sich
überhaupt dessen bewusst, was er wirklich will und was genau ihn motiviert? Der Wolfsmann kann
doch gar nicht allein sein; er meint es nur. Wie ist dann Verständigung möglich?“

An einer Ampel flaut der Krach ein wenig ab und Florian hört den Ruf eines Bussards in der Nähe des
Wäldchens. Kurz zweifelt er daran, dass sein Traum Wirklichkeit werden könnte – er erscheint ihm zu
hochgegriffen, weil so viele Menschen sich selbst und ihre Motive nicht gut kennen. Wie soll das
dann was werden? Wenn man sich selber nicht versteht, kann man doch mit anderen keine
Verständigung erreichen.

Die Ampel springt auf Grün und Florian tritt kräftig in die Pedale. „Das müssen wir Menschen eben
lernen und üben“, denkt er, „und ich werde dabei helfen. Wir müssen uns viel öfter gegenseitig
erläutern, was wir überhaupt meinen mit unseren Worten. Und wir sollten uns und unsere Motive
stärker hinterfragen.“

Zuhause angekommen schlägt er ein Büchlein auf und liest:

Misstraue deinem Urteil, sobald du darin den Schatten eines persönlichen Motivs entdecken kannst.
Marie von Ebner-Eschenbach

Die Zufallsbegegnung mit dem Wolfsmann wird nicht umsonst gewesen sein!

Ulrike Stein

Categories: ZUKUNFTSWERKSTATT

Hervorragende Arbeit

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